heute gibt es eine Premiere! Das Spezial-Interview zum Buch.
Erst vor wenigen Tagen habe ich den Roman "Die Stadt der schweigenden Berge" gelesen. Dieses Buch, diese Geschichte um die untergegangene, doch einst so berühmte Hauptstadt der Hethiter hat mich dermaßen fasziniert, dass ich die liebe Charlie Lyne mit einigen speziellen Fragen zum Roman gelöchert habe. Das Buch hat Charlie übrigens unter dem Namen Carmen Lobato geschrieben.
Masis und Charlie
(Masis ist der Name, den die Armenier dem Berg Ararat gegeben haben)
Von den Hethitern habe ich natürlich schon gehört. Gilgamesch und Enkidu sind mir natürlich ein Begriff. Aber wie bist du ausgerechnet auf dieses faszinierende Hattusa gekommen?
Zufall. Glück. Mein Weltwunder.
Eine Geschichte aus der Rubrik: „So lernten wir uns kennen.“
Wir waren im Vorderasiatischen Museum in Berlin, um unserem jüngsten Sohn das Ishtar-Tor zu zeigen. Ein Freund, der zu der Zeit dort eine Arbeit fertigstellte, stand bei uns und erklärte ein paar Details zur Rekonstruktionsgeschichte. Und dann sagte er plötzlich: Bevor ihr geht, schaut euch aber noch die Hattuša-Sphinx an, denn die wird ja nun demnächst zurückgegeben, die bekommt ihr dann nicht mehr zu sehen.
Klar, habe ich gesagt, machen wir. Aber ähhh – wer oder was ist denn bitte Hattuša?
Eine halbe Stunde später wusste ich’s. Und war ihr rettungslos verfallen. Wir endeten dann – wie meist nach dem Vorderasiatischen - in den „Zwölf Aposteln“ (zweifellos eine der zauberhaftesten Kneipen von Berlin), ich hatte mir mal schnell ein Notizbuch gekauft, und unser Freund hatte eine türkische Freundin hinzubestellt, die zu Hattuša gearbeitet hatte. Die Freundin erzählte, ich kritzelte, der Rest hatte seinen Spaß an uns. Bis zum Abend stand mehr oder minder die Hälfte der Geschichte.
Ich hatte schon immer einen Atlantis-Tick. Und plötzlich hatte ich eines entdeckt!
Wenn ich jetzt im Vorderasiatischen bin, fröne ich hemmungslos meiner kitschigen Ader, stelle mich vors Ishtar-Tor und schwelge in meinem Guck-mal-Hatti-hier-war’s-Moment. (Meine Familie nimmt’s mit Humor.)
Wie lange musstest du für diesen Roman recherchieren?
Musste?
Frag mich lieber – wie höre ich jemals wieder damit auf?
Die Begegnung mit Hattuša, meine Recherchereisen in die Türkei und vor allem nach Armenien haben irgendeinen Staudamm in mir eingerissen. Vor meiner ersten Armenien-Reise sagte mir eine Kollegin, von der ich ein paar Tipps haben wollte: „Mach dir keine Sorgen. Armenien ist wundervoll – mittlerer Osten für Anfänger.“ Stimmt alles. Tausendmal. Nur bin ich jetzt infiziert. Und fühle mich wie gelähmt, weil die geplanten Reisen in den „Mittleren Osten für Fortgeschrittene“ aufgrund der entsetzlichen Lage in den Ländern nicht stattfinden können.
Aber das wolltest Du ja gar nicht wissen. Also … für gewöhnlich brauche ich für die Recherche zu einem Roman wie diesem ein Jahr. Alles darüber hinaus ist keine notwendige Recherche mehr, sondern Sucht! Und die scheint bei diesem Buch nicht mehr heilbar.
Das Gilgamesch-Epos ist eine Gruppe literarischer Werke, die vor allem aus dem babylonischen Raum stammt und eine der ältesten überlieferten schriftlich fixierten Dichtungen beinhaltet. Hast du das Epos gelesen?
Viele Male.
Als ältestes, umfangreich erhaltenes Epos der Weltliteratur ist mir das Gilgamesch-Epos in Gänze zum ersten Mal während des Studiums begegnet. Verliebt habe ich mich sofort, und zeitlebens hat mich fasziniert, wie stark die Elemente des Epos die verschiedenen Literaturen der Welt geprägt haben. Achill und Patroklos, Arthur und Lancelot und all ihre Brüder sind Nachkommen von Gilgamesch und Enkidu. Für mich ist das Gilgamesch-Epos auch eine der ganz großen Auseinandersetzungen mit Tod und Sterblichkeit und es enthält die vielleicht älteste Liebeslyrik der Welt – und falls einer mich fragt, die herzzerreißendste.
Zugang zu Menschen, die mit den Originalen arbeiten, habe ich aber erst seit einigen Jahren. Und seither ist es erst richtig aufregend und alles neu!
Deine Geschichte beginnt im Berlin der Dreißiger Jahre.
Wieso ausgerechnet diese Zeit?
Das hat verschiedene Gründe:
Die Jahre 1900 – 1945 sind „meine“. Bis dahin habe ich mich sozusagen vorgearbeitet, da finde ich meine Themen, und da würde ich gern für den Rest meines Schreibens bleiben dürfen. Das interessiert mich – die großen Weichenstellungen, die dieses (mein) Jahrhundert an die Wand gefahren haben. Die aber auch Menschen hervorgebracht haben, vor deren Mut und Menschlichkeit man den Atem anhält, klein wird und sich hinterher reicher fühlt. Auch wenn sie fast vergessen sind oder niemals berühmt waren.
Wenn man über die Glanzzeit der Archäologie, die großen Expeditionen ins Unbekannte schreiben möchte, ist man in dieser Zeit prächtig bedient.
Die frühen Dreißiger Jahre sind zugleich ein regelrechtes Brennglas: Hier möchte man anhalten, einfangen, alles neu ordnen. Die Republik Weimar befindet sich sturzflugartig im Niedergang – und zur selben Zeit ist das flirrende, taumelnde, vor nichts haltmachende Weimarer Berlin so schön und erregend wie nie. Die Katastrophe rollt jetzt massiv sichtbar an – aber es gibt auch noch Kräfte, denen man zutrauen möchte, sie aufzuhalten. Eine Zeit, mit der man – oder zumindest ich – nie fertig wird.
Die Entscheidung speziell für das Jahr 1931 hatte einen ganz konkreten Grund: Es ist das Jahr, in dem Kurt Bittel zur zweiten großen Expeditionsreihe nach Hattuša aufbrach. Für meine Geschichte passte das perfekt. Und dass seit dem Genozid am armenischen Volk fünfzehn Jahre vergangen waren, fügte sich.
Hattusa war die Hauptstadt des alten Hethiter-Reiches. Erkläre den Lesern doch bitte, wo genau Hattusa liegt.
Liebe Monika, ich liebe alle Deine Frage, aber diese ist mein Waterloo! Ich bin ein Orientierungs-Legastheniker (nee, das gibt’s nicht, das habe ich persönlich erfunden, weil meine Trottelei anders nicht zu beschreiben ist. Es gibt nicht mehr so sehr viele Städte in Europa, in denen ich noch nicht verloren gegangen bin), habe Geographie in der Schule „Erdkäse“ genannt und eine Fünf erfolgreich bis vors Kurssystem transportiert. Ich weiß sowas immer nicht … kann auch keine Landkarten lesen und überlasse das meinem Mann. Anyway, ich versuche mein Bestes, ja? Also – Hattuša liegt im Hochland von Anatolien, über dem Ort Bogazkale, in der Provinz Corum. Von Ankara aus haben wir ungefähr zwei Stunden gebraucht. Genügt das? Die Landschaft ist jedenfalls überwältigend: Harsch, scharfkantig, weit und leer. Anders als alles, was ich bisher gesehen habe.
Charlie mit einem gefüllten armenischen Osterbrot.
Im Hintergrund das grandiose, in Stein geschlagene armenische Kloster Geghard, was so viel wie Lanzenspitze bedeutet. Charlie hat mir erklärt, dass die Lanze eine Reliquie ist (angeblich die, mit der Jesus gestochen wurde)
Bist du vor Ort gewesen?
Ich hab ja keine Fantasie. Über einen Stein, den ich nicht selber umgedreht habe, kann ich auch nicht schreiben. Deshalb ist das das erste, was ich mache, wenn ich ein Projekt verkaufe: Recherchereisen buchen. (Und ob ich ein Projekt, das im Irak spielt, jetzt noch durchziehen kann, nachdem ich die Recherchereise absagen musste, steht in den Sternen. Das macht mich sehr traurig.) Wir waren zweimal in Hattuša, mehrmals in Istanbul, Tatvan und Van. Und dann sind wir – mit dem Rohmanuskript im Koffer – nach Yerevan geflogen. Ich hatte mein Leben lang Angst, mich in einen Ort außerhalb Europas zu verlieben, weil man da ohne Lottogewinn ja nicht einfach mal schnell wieder hinfahren kann, habe mir alle Mühe gegeben, das zu verhindern. Als ich in Yerevan aus dem Flugzeug gestiegen bin, war jedoch alles zu spät. Die Städte, in die ich mich unauslöschlich verliebt habe, sind jetzt zu dritt. Und mir ist klar, dass ich bis ans Ende meines Lebens pleite – und ziemlich reich – sein werde.
Im Roman lesen wir von Tontafeln der hethischen Könige und vom ersten bekannt gewordenen Friedensvertrag der Weltgeschichte zwischen Hatti und Ägypten. Ist das nicht furchtbar aufregend, darüber zu recherchieren?
Das ist das alleraufregendste!
Ich wäre gern Archäologe geworden, habe aber Klaustrophobie und bin vor der Kombination zurückgeschreckt. Umso unersättlicher bin ich jetzt, wenn ich mit Archäologen, Assyriologen (das würde ich studieren, wenn ich nochmal bei Null anfangen könnte) oder Experten aus verwandten Disziplinen an einer Recherche arbeiten kann. Unser jüngster Sohn (12) will Archäologe werden, seit er 4 ist. Wir trichtern ihm beflissen ein: Vor jedem Job, den du akzeptierst, musst du den Auftraggebern sagen: Ich muss da aber meine alten Eltern mitbringen dürfen …
Puduḫepa, Hattušilis, Urhi-Tesub - Personen, von denen ich vorher noch nie gehört habe. Ich habe erst einmal Google bemüht und mich ganz intensiv damit beschäftigt. Ich liebe Geschichten mit Personen, die tatsächlich gelebt haben und die eine Autorin wie du zum Leben erweckt. Ist es schwierig, solchen Roman-Figuren Leben einzuhauchen?
Um ganz ehrlich und ausnahmsweise mal knapp zu sein: Meistens ja. Bei der Hatti nicht.
Irgendwie kommt’s mir ja – obwohl ich kaum je in einen Roman so viele Stunden gesteckt habe – bis heute so vor, als hätte die Hatti sich allein geschrieben.
Mit der Knappheit ist’s, wie man sieht, auch schon wieder vorbei. Also grundsätzlich finde ich das ausgesprochen schwierig, Figuren zum Leben zu erwecken. Ich habe, wie gesagt, eine eher kümmerlich ausgeprägte Fantasie, weshalb ich die meisten Figuren zu „finden“, statt zu „erfinden“ versuche. Glücklicherweise sind mein Mann, Kinder und Schwager mit deutlich mehr Fantasie gesegnet und helfen mir da oft aus. Figuren, die auf Vorbildern passieren, fallen mir wesentlich leichter. „Als wir unsterblich waren“ war dabei der Traumkandidat: Der Roman ist aus der Lebensgeschichte einer Familienfreundin entstanden, die ihr gesamtes Leben in zwei Riesenkisten dokumentiert hatte. Da brauchte ich gar nichts zu tun, als diese Kistendeckel zu öffnen und die Figuren aussteigen zu lassen. Na ja und ein bisschen ordnen und beschneiden natürlich. Aber ihr Leben haben die sich schon selbst mitgebracht.
Bei denen, die ich aus meinen Fingern saugen muss, ist das dagegen ein langwieriger Prozess, der nicht immer glattgeht. Manche kosten unendlich viel Mühe, und manche bleiben Pappkameraden und bewegen sich nie. Ich bin kein visueller Mensch, habe auch nur selten ein Bild im Kopf, sondern muss mir genau aufschreiben, wie sie aussehen, damit ich da nichts verdrehe.
Bei der Hatti war das völlig anders. Völlig ungewohnt. Völlig nicht-ich. Die Figuren waren ohne Zutun von mir alle da. In meinem Arbeitszimmer. Und da sind sie immer noch. Manchmal. Wenn sie nichts Besseres zu tun haben. Kollegen haben mir zuweilen erzählt, wie sie sich mit ihren Figuren zum Frühstück setzen, und ich habe mich immer völlig fasziniert gefragt, wie das gehen soll. Ich dachte irgendwann: Bei uns isses vielleicht beim Frühstück zu voll und zu laut.
Seit ich die Hatti habe, weiß ich, wie es geht. Nur frühstücken meine Hatti-Menschen nicht und sie haben nicht mehr so viel Interesse an mir wie ich an ihnen. Aber in meinem Haus hatte ich sie alle. Und wie sie aussehen, brauche ich mir mit keinem Wort aufzuschreiben, denn ich kenne sie ja. Von seinen Nachbarn schreibt man sich das ja auch nicht auf.
Was verbindet dich jetzt mit Hatti?
Das Reich Hatti war meine Einstiegsdroge in die Kulturen des alten Orients (mit Ausnahme von Ägypten und Babylon, die ich schon immer irgendwie „an Bord“ hatte). Es hat mein Leben von Grund auf verändert. Auch beruflich. Ich war – mit kurz vor fünfzig – an einen Punkt gekommen, an dem ich mich gefragt habe, was ich mit dem Rest von meinem Leben eigentlich noch machen sollte. Beruflich hatte sich vieles totgelaufen, beim Schreiben auch und die Jahre, die wir noch Kinder zu Hause haben werden, wurden auf einmal fürchterlich überschaubar. Hattuša hat mir ein Tor aufgestoßen, eine Welt eröffnet, eine Fülle neuer Ideen. Sogar das Thema meiner Langzeit-Doktorarbeit habe ich geändert. Und der Rest meines Lebens ist erfolgreich verplant …
Dein Buch behandelt nicht nur die hethitische Geschichte, sondern auch die des armenischen Volkes in der Türkei. War es dir ein besonderes Bedürfnis, auch darauf einzugehen und warum?
Danke, dass Du danach fragst. Ja, das war mir ein Bedürfnis. Das wichtigste. Das, was bei mir bleibt und für das ich – als ultimativer Fortsetzungs-Hasser – einen zweiten Teil schreibe. Das Thema Genozid beschäftigt mich mein Leben lang. Es brennt in mir. Dass ich darüber schreiben könnte, dass ich das wagen würde, habe ich nicht erwartet, weil ich der Ansicht war: das gehört nicht in den Unterhaltungsroman, darüber lese ich keine Unterhaltungsromane, und um etwas anderes als Unterhaltung zu schreiben, reicht meine Fähigkeit nicht aus. Das Bedürfnis war aber stärker als die Bedenken – ich landete ständig bei irgendwelchen Ausweichthemen. Bei der Hatti ist mir das Thema dann durch einen Zufall (einen Planungsfehler, um genau zu sein) in den Schoß gefallen und ließ sich nicht mehr beiseiteschieben. Jetzt ist es da, jetzt lasse ich es nicht mehr los, weil ich das gar nicht könnte. Ob es in einen Unterhaltungsroman gehört, weiß ich immer noch nicht, und die Probleme, die damit einhergehen, sind mir täglich bewusst. Ich bin da sehr offen für Kritik und Diskussion. Aber es bleibt mein Thema. Daran kann ich nicht rütteln.
Bei der Gelegenheit erlaube ich mir einen Gedanken nach Armenien zu schicken. Am 25. April erfährt der Genozid seinen Jahrestag zum hundertsten Mal. Es gibt noch immer keine Sühne, keine Anerkennung, keine Möglichkeit einer Aufarbeitung. In Bitternis und Traurigkeit bleibt nur eine Spur Erleichterung darüber, dass es nicht gelungen ist, dieses Volk aus dem verflochtenen Gewebe der Kulturen gänzlich herauszureißen und zu vernichten. Es ist ein Volk, dessen kultureller Reichtum überwältigt und dessen Charme und Gastfreundschaft bezaubert. Wir sind sehr dankbar, ihm begegnet zu sein – und bald wieder zu kommen. Alles Liebe.
Meine liebe Charlie, zum Schluss muss ich dir sagen, dass mich selten ein Buch so fasziniert hat, dass ich ständig bei Google unterwegs war, um noch mehr zu erfahren, um noch tiefer in die Geschichte einzusteigen. Wie fühlst du dich als Autorin, wenn Leser dir das schreiben?
Wenn Leser mir so etwas schreiben (und die Leser von „Als wir unsterblich waren“ haben mich da sehr verwöhnt), ist das eine kleine Party, die lange anhält. Beschämend und hinreißend. Das schönste überhaupt, es ist das Das-war-es-alles-wert-Gefühl.
Wenn mir ein Leser aber so etwas zu meiner Hatti schreibt, dann habe ich dafür gar keine Worte mehr. Die Hatti ist mein liebstes Buch, mein mir allerwichtigstes Buch, das, dem ich einen Aufkleber draufpappen möchte: Wenn du nur ein Buch von mir liest – lass es bitte dieses sein. Aber auch das, bei dem ich manchmal Angst habe: Es hat mir so viel Glück geschenkt, wie ich das von meinen eigenen Büchern nicht kenne, sondern nur von denen anderer Menschen, in deren Liga ich nicht schreibe. Habe ich es womöglich nur für mich geschrieben?
Dass mir jemand – du – sagt, ich hätte es auch für ihn geschrieben, er wolle nachlesen, suchen, an den Themen bleiben, ist ganz unbeschreiblich und macht mein Herz rasen. Es ist zum In-eine-Schatzkiste-legen-und-für-immer-aufbewahren. Für alle Tage, an denen es regnet, alle Tage, an denen das Schreiben eine bockige Quälerei ist, die einem die Laune verdirbt. Danke, Monika!
Charlie&Hatti
Liebe Charlie, ganz, ganz herzlichen Dank für dieses wunderbare, äußerst spannende Interview!
Danke dass du alle meine neugierigen Frage beantwortest hast!
Ich habe zu danken, liebe Monika.
AntwortenLöschenIch freue mich so sehr!